Ich habe es nun endlich gelesen, das Buch, über das so viel gesprochen wird, wenn es um japanische Ästhetik geht: Lob des Schattens. Es ist mit knapp 90 Seiten mehr ein Büchlein und lässt sich flüssig und rasch durch lesen.

Lob des Schatten

Tanizaki Jun’ichiro – Lob des Schatten

Der Essay des Schriftstellers JUN’ICHIRO Tanizaki (谷崎潤一郎 *1886 †1965; er studierte japanische und englische Literatur und schuf ganze 119 Werken) erschien erstmals 1933 in der Zeitschrift Keizai-ōrai (経済往来 / けいざいおうらい / ›Wirtschaftsbeziehungen‹) unter dem japanischen Titel In’ei Raisan (陰翳礼讃 / いんえいらいさん).

Die deutsche Fassung ist aus dem japanischen von Eduard Klopfenstein übersetzt, der einige japanische Begriffe am Ende des Buches zusätzlich erläutert. Sie wird vom Manesse Verlag herausgegeben und ihr Cover ziert eine Kalligrafie der ersten beiden Zeichen des Titels (陰翳 / Schatten) von Suishū Tomoko Klopfenstein-Arii – wohl die Frau des Übersetzers.

Auch wenn man dem Werk die Zeit, in der es erschien, anmerkt, so ist es doch noch immer bemerkenswert aktuell. Vom Schreibstil und manchen heute als politisch nicht ganz korrekt geltenden Formulierung einmal abgesehen beinhaltet es Themen, die auch heute noch im Bezug zur japanischen Tradition wichtig sind.

So beginnt das Werk mit dem Bezug zur Architektur und der Auseinandersetzung, wie man die Ästhetik japanischer Häuser mit modernen Errungenschaften wir elektrischem Licht oder gekachelten Bädern in Einklang bringen kann. In einzelnen Themenbereichen wie Raumgestaltung, Essgeschirr oder sogar der Farbe der menschlichen Haut, unterscheidet der Autor die japanische von der westlichen Ästhetik.

Ob nun von Dunkel durchzogene, nur matt durch Kerzenschein erleuchtete Gasträume, Alterspatina angesetzte Metallgefäße oder japanische Haut, die im Gegensatz zu der von Westlern niemals durchsichtig zu sein scheint, nichts von alledem kann nach der Meinung des Autors ohne den Schatten seine volle Schönheit entfalten. Alles ist so aufeinander abgestimmt, dass es in vollem (elektronischen) Licht, seinen Reiz verlieren würde.

Hinter diesem Wandschirm aber, der einen hellen Ausschnitt von nur etwa zwei tatami abgrenzte, hing eine hohe, dichte, monochrme Dunkelheit, gleichsam als wäre sie im Begriff, von der Decke herabzufallen. Das unstete Kerzenlicht mochte diese Dichte nicht zu durchdringen, sondern wurde zurückgeworfen, als wäre es gegen eine schwarze Wand geprallt. Haben Sie, meine Leser, je die Farbe einer solchen ›lichtbestrahlten Dunkelheit‹ gesehen? Sie war irgendwie aus anderer Substanz als etwa das Dunkel auf einem Nachtweg; der Eindruck drängte sich auf, es wimmle von winzigen, ascheartigen Körperchen, un jedes einzelne Teilchen glänzte in allen Regenbogenfarben.

Diese von ästherischer und keineswegs düsterer Dunkelheit durchzogene Tradition ist in Japan auch heute noch allgegenwärtig und für jedermann erfahrbar. Alte Häuser sind innen niemals taghell erleuchtet, die Shōji (mit Papier bespannte Holztüren) lassen zwar Licht in den Raum, dämpfen es allerdings. Und selbst wenn man sie aufschiebt und in einen sonnendurchfluteten Innenhof blickt, wird man drinnen weiterhin im vom Schatten umsäumt bleiben. ›Lob des Schatten‹ wird jedem Japankenner sehr vertraut vorkommen, was den Lesegenuss allerdings nicht mindert. Man erfährt mehr Details und erhält Einblick in die Perspektive eines Japaners, der das alte Japan im Bezug zur westlichen Moderne erlebt hat.

Weiss

Sehr eng ist dieser gelobte Schatten also mit der alten japanischen Ästhetik verknüpft. Und die neue japanische Ästhetik? Immer wieder musste ich bei Lesen von ›Lob des Schatten‹ daran denken, dass die moderne japanische Architektur sehr wohl Sonnenlicht in die tiefsten Winkel der Räume hinein lässt und typisch modernes japanisches Produktdesign neben matten und dunklen Farben auch strahlendes Weiß und Transparenzen erlaubt. So lag nichts näher, als gleich im Anschluss an dieses Werk jenes Buch zur Hand zu nehmen, das längst darauf wartete, verschlungen zu werden: Weiss von HARA Kenya (原研哉 *1958; Grafik Designer und Professor an der Musashino Art University), bei uns erschienen bei Lars Müller Publishers.

HARA Kenya – White

Im letzten Absatz des Vorwortes steht: »Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, kann es passieren, das Sie Weiss nicht mehr einfach als Weiss betrachten werden. (…) Je sensibler Sie Weiss wahrnehmen, desto feinfühliger werden Sie auch Schatten differenzieren.«

Ein Buch über die Farbe Weiß also? Den Kontrast zwischen Helligkeit und Dunkel? Genau genommen geht es kaum um die Farbe selbst, als um das Konzept der Leere, das sie impliziert. Weiß wird oft als die Abwesenheit von Farbe oder als Nichts bezeichnet. Hara sieht hier aber ganz im Gegenteil die Möglichkeit alles werden zu können.

Manchmal verwenden wir Weiss in der Bedeutung Leere. Weiss als Nichtfarbe wird dann zum Sinbild für das Nicht-Sein. Es kommt allerdings häufig vor, dass sich diese Leere nicht als Nichts oder als Fehlen von Energie zeigt, sondern vielmehr als Möglichkeit des Noch-nicht-Seins, kizen, also als etwas, was erst noch mit Inhalt gefüllt werden muss. Unter dieser Voraussetzung kann die Verwendung von Weiss eine ungeheuer kraftvolle Energie im Hinblick auf die Kommunikation freisetzen. Ein kreativer Geist betrachtet ein hohles, leeres Gefäß nicht als wertlos, sondern als ein Übergangsstadium, als ein Anzeichen dafür, dass es irgendwann einmal befüllt werden wird.

Man merkt klar, dass Hara aus der Perspektive eines Gestalters schreibt. Einige Inhalte, wie die Auseinandersetzung mit (japanischer wie westlicher) Typografie oder Papier, dürften für Nichtgrafiker weniger gut nachvollziehbar sein, da Fachbegriffe ohne nähere Erläuterungen verwendet werden. Das Buch verbleibt aber bei Weitem nicht nur im Design-Kontext. Es werden erstaunlich viele Japanbezüge gesetzt, die auch hier einem Nicht-Kenner das Lesen erschweren. Ganz eindeutig ist es ein Werk von einem JAPANER und GESTALTER und vorallem für jene gedacht, die sich dem Land und diesem Thema beschäftigen – also für Leute wie mich.

Und so habe ich es mit wachsender Begeisterung gelesen. Ich möchte nicht allzu viel verraten, da die unvorhersehbaren Themen einen gewissen Reiz beim Lesen ausmachen. Lasst euch aber gesagt sein, dass ganz besonders Interessierte an Design und Japan voll auf ihre Kosten kommen werden, auch wenn 19,90€ für knapp 90 Seiten nicht gerade günstig ist. Man erhält ein Kleinod mit wunderbarer Haptik – gutes Papier, Hardcover, ein für Japan typischer doppelter Umschlag sowie ein Lesebändchen – und bemerkenswertem Inhalt. Nach dem Lesen wird man nicht nur die Farbe Weiß und den Schatten mit anderen Augen sehen, man ist auch sensibilisierter in Bezug zu Japan und der Idee der Leere.

So bin ich nun also ein wenig gebildeter und verbleibe mit Hunger nach weiterer Lektüre.

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first published at www.futurefire.de on 2010.05.05