Das Leben hat manchmal wunderschöne Wege, Kreise zu ziehen. Zu Beginn meines ersten Auslandssemesters hatte es mir der Goldfisch (jap. 金魚 / Kingyo) besonders angetan. Und nun wurde der 玉川上水 / Tamagawa-jōsui (Tamagawa-Kanal), die kleine Oase mit ihren unermütlichen Koi, in die ich mich bereits nach meiner Ankunft verliebt hatte, zu einem Projekt.
Der Ursprungsort der 鯉 / Koi ist nicht genau bekannt. Vielleicht stammt er aus dem Donau-Gebiet, dem Aral-See, China, Japan oder Korea. Sicher ist jedoch, dass es in China bereits vor 2.500 Jahren farbige Karpfen, auch 錦鯉 / Nishiki-goi (wörtl. Brokat-Karpfen), gegeben hat. Er ist seit jeher ein Symbol der Stärke, da er der einzige Fisch ist, der es schafft, den Gelben Fluss hinauf zu schwimmen (jap. 滝登り / Taki-nobori, Hinaufschwimmen eines Wasserfalls). Dort gibt es die starken Stromschnellen Longmen (japanisch 龍門 / Ryūmon), was Drachentor bedeutet. Der Legende nach verwandeln sich Karpfen, die es zur Quelle des Gelben Flusses schaffen, in Drachen.
In Japan entdeckte man die ersten farbigen Mutationen in Weiß, Rot und Gelb um 1800 in den Regionen, in denen seit dem 18. Jahrhundert in Verbindung mit gewässerten Reisfeldern Karpfenzucht betrieben wurde. Seine große Popularität erhielt der Koi jedoch erst mit der Taisho-Ausstellung 1927 als der Kronprinz Hirohito, studierter Biologe, sieben farbige Exemplare geschenkt bekam. Von Japan aus wurde er dann weltweit berühmt.
Der Koi symbolisiert nicht nur Stärke, sondern auch Mut, Durchhaltevermögen und Erfolg. Im Durchschnitt wird er 50 bis 70 Jahre alt (in Teichen jedoch meist nicht älter als 10), soll aber bis zu 200 Jahre erreichen und steht daher auch für ein langes Leben. Auch verspricht er Glück und Reichtum. Und da das Kanji für Liebe 恋 ebenfalls Koi gesprochen wird, ist er auch ein Zeichen für Liebe und Freundschaft. Man nennt ihn den König der Flüsse und er ist der beliebteste Fisch in Japan.
Ein äußerst potenter Fisch also – kein Wunder, dass die Samurai der Muromachi-Ära ihn für seine Tapferkeit bewunderten. Er ist außerdem ein beliebtes Motiv in der japanischen Tätowier-Kunst, dem 入れ墨 / Irezumi. Hier wird er in der Regel den Wellen der Stromschnellen entgegen schwimmend dargestellt. Die Verbindung mit Ahornblättern ist traditionell korrekt, da die Karpfen im Herbst die Flüsse hinauf schwimmen, es gibt jedoch viele moderne Motive zusammen mit Sakura– oder Lotusblüten.
Heute wird der Koi als Motiv ganz besonders mit dem 子供の日 / Kodomo no Hi (Tag der Kinder), bis 1948 端午の節句 / Tango no Sekku (Knabenfest) am 5. Mai in Verbindung gebracht. Man hängt zu Ehren der Kinder bzw. traditionell der Söhne 鯉のぼり / Koi-nobori (Koi-Fahnen) auf, die im Wind quasi dem Strom entgegen ›schwimmen‹. Ein großer, schwarzer für den Vater der Familie, einen roten oder orangenen für die Mutter, Blau steht für einen Sohn, Rot oder Pink für eine Tochter. Die Familie, deren Koi-nobori auf dem Foto zu sehen sind, hat entweder nur einen Sohn oder ist traditionell. Man wünscht, die Söhne bzw. Kinder mögen so mutig, stark und erfolgreich wie die Koi werden. Oder wie 金太郎 / Kintarō, eine legendäre Figur, die oft mit einem Koi zusammen gezeigt wird.
Der Sage nach war Kintarō ein übernatürlich starker, dicklicher Junge, der im Wald des Ashigara Berges von einer 山姥 / Yamamba (Berghexe) aufgezogen wurde. Über seine Geburt gibt es unterschiedliche Versionen. Eine besagt, die Yamamba selbst sei seine Mutter gewesen, sein Vater ein roter Drache in Form eines Blitzes. Eine andere, er sei Sohn einer Prinzessin aus Sakata, die mit ihm wegen eines Streites zwischen ihrem Mann, einem Samurai, und dessen Onkel hatte fliehen müssen. Oder aber er wurde als Kind ausgesetzt.
Kintarō von Utagawa Kuniyoshi, um 1835 (Quelle: Wikipedia.de)
Er trug einen Lendenschurz mit dem Zeichen 金 / Kin (Gold) und besaß eine Doppelaxt. Seine Kindheit und Jugend verlebte er glücklich. Er war mit den Tieren des Waldes befreundet, sie lehrten ihm sogar ihre Sprache, und sein Lieblingshobby war das Ringen. Niemand konnte ihn besiegen. Nicht einmal ein Bär und ein riesiger Koi – den größten, den man je gesehen hatte. Nach seinem Sieg schloss er mit beiden Freundschaft und sie ließen ihn auf sich reiten.
Eines Tages kämpfte er gegen 酒呑童子 / Shuten-dōji, den großer Herrscher der 鬼 / Oni (Dämonen), der die Region in Angst und Schrecken versetzt hatte. Der Samurai 源頼光 / MINAMOTO no Yorimitsu sah diesen Kampf, den Kintarō natürlich gewann. Er bildete diesen darauf hin zum Krieger aus und ernannte ihn zu einem seiner vier wichtigsten Kämpfer, den 四天王 / Shitennō (vier Himmelkönige). Weitere Symbole für das Knabenfest und die Zeit um Anfang Mai sind daher der Samurai-Helm und die Schwertlilie. Kintarō trug fortan den Namen 坂田金時 / SAKATA Kintori, der wie Minamoto eine real existierende Persönlichkeit war.
In meiner breit gefächerten Recherche erkundigte ich mich auch nach den Giebelkarpfen, die viele Dächer zieren. Nach einer frustrierten Suche, fand ich heraus, dass es sich dabei gar nicht um einen Koi, sondern um ein Fabelwesen mit dem Namen 鯱鉾 / Shachihoko oder kurz 鯱 / Shachi bzw. auch Shachihoko handelt. Es besitzt einen Tiger-Kopf und den Körper eines Karpfens. Ein mystisches Wesen also, das ein wenig an die zu Drachen gewordenen Koi erinnert. Das Kanji für Shachi bedeutet auch Orca-Wal (hier nur Shachi) und besteht wie das mystische Geschöpf selbst aus den Radikalen für Fisch (魚 / Sakana) und Tiger (虎 / Tora). Es entstand in Japan und ist in China daher unbekannt. 鉾 / Hoko ist ein Speer.
Man spricht dem Shachihoko, der im Wasser lebt, zu, den Regen kontrollieren zu können. Als Giebelfigur (japanisch 鴟尾 / Shibi) schützt er also wie die Fisch-Figur über der Feuerstelle in japanischen Bauernhäusern vor Feuerausbrüchen. Die 鴟尾 / Shibi, die wegen ihrer Schuh-ähnlichen Form auch 沓形 / Kutsu-gata (Schuh-Form) genannt werden, stammen aus China und kamen in der Asuka-Zeit (538/592–710) nach Japan. In der Edo-Zeit wurden sie populär und zierten die Dächer vieler Burgen, Paläste, Tempel und Samurai-Häuser und ab der Meiji-Zeit auch private Häuser der breiten Bevölkerung.
Man sagt: 鯱鉾立ちも系の中 / Shachihoko-tachi mo gei uchi – einen ›Shachihoko-Stand‹, also Handstand, als Kunst verkaufen. Und wenn man zu Fuß läuft, hat man Zeit die Shachihoko zu betrachten. ›Auf Schusters Rappen‹ heißt auf Japanisch also: 金の鯱鉾を睨んで / Kane no Shachihoko wo narande – die goldenen Shachihoko anstarren. Und dies werde ich auf meinen Reisen fortan mit mehr Wissen als zuvor tun. Die Giebelfiguren anstarren / betrachten, so wie die Koi im Tamagawa-jōsui im Grunde jedes Mal, wenn ich eine der Brücken überquere und ein wenig Zeit erübrigen kann.
Quellen:
1) Koi (Wikipedia.de, Anfang Mai 2012)
2) Kintarō (Wikipedia.de, Anfang Mai 2012)
3) Shachi 鯱 or Shachihoko 鯱鉾 (Japanese Buddhist Statuary, Anfang Mai 2012)
4) Shachihoko – der „Giebelkarpfen“ (Japan Almanach, Anfang Mai 2012)
5) 和独辞書 (Wadoku.de, Anfang Mai 2012)
……………………
first published at www.futurefire.de on 2012.06.15