Mittwoch Nachmittag, kurz nach vier, mitten im November. Die Linden vor der Wilhelmsaue 108A in Berlin Wilmersdorf, dem Haus in dem ich lebe und aufgewachsen bin, haben schon fast alle ihr Herbstkleid abgeworfen. Es bedeckt nun den Bürgersteig wie nach einem verwehten Blätterregen, aber es ist nicht nass, klamm oder kalt. Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen und auch jetzt, wo sie dabei ist, unterzugehen, ist es für die Jahreszeit erstaunlich blau-himmlig und lau. Gar nicht unangenehm, sondern richtiggehend gemütlich. So richtig schöner Herbst, der einen lächeln lässt.

Das satte Gelb der herz-runden Lindenblätter spiegelt sich im gelben Efeu des Hauses schräg gegenüber, dem für diese Straße ungewöhnlich kleinen, zweistöckigen Haus mit der Nummer 31. Es ist dort, wo es nicht seine rote Backsteinwand offenbart, gelb angestrichen ist. Überhaupt strahlt mir das Gelb überall auf meinem Weg Richtung Wilmersdorfer Volkspark entgegen:
Mein Wohnhaus und das Schulgebäude daneben besitzen die gleiche Farbe. Blatt um Blatt schreite ich den gelben Teppich entlang, den der Herbst herrschaftlich ausgelegt hat. Ein knallgelbes Auto von ›RENAFAN—pflegen und betreuen‹ sticht mir ins Auge. Unweigerlich blicke ich zurück und wie erwartet steht der postgelbe Kleinwagen unseres Hausmeisters vor unserer Haustür.

Wilhelmsaue 101, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07 © Wanda Proft

Wilhelmsaue 101, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07

Gegen Ende unserer Straße folgt ein weiteres gelbes Szenenbild: Ein kleines Erdgas-Hinweisschild ist dort zusammen mit der nicht wirklich schönen, großen, gelben Wertstoff-Tonne der Wilhelmsaue 100 vor blättergelben Hintergrund zu sehen. Hier aber hat der Herbst auch ein bisschen mehr zu bieten: An der Häuserwand der Nummer 101 rankt sich ein orange-roter Wein hinauf.
Als ich dann links in die Mannheimer Straße abbiege, eröffnet sich eine gelbe Ahornbaum-Reihe. Fasziniert vom Blättermeer gehe ich kurz auf die Suche nach schönen Exemplaren, aber anders als die der Linden sind die Ahornblätter auf Bürgersteig und Straße alle langweilig braun.

Erdgas-Hinweisschild, Wilhelmsaue 100, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07 © Wanda Proft

Erdgas-Hinweisschild, Wilhelmsaue 100, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07

Nicht dass dies eine junge Schülerin der Finkenkrug-Schule, einer Förderschule für Geistige Entwicklung, stören würde. Am Boden hockend spielt sie mit einem Herbstblatt während sich ihre Eltern unterhalten und andere Schüler von Pflegekräften abgeholt werden. Die Stimmung ist gelassen und angenehm, beruhigend irgendwie. »Immer schön langsam gehen«, sagt ein Angestellter der Firma busmaxx wie auf Bestellung zu einem Schüler, den er vorsichtig-gemächlich zu seinem Kleinbus führt.
Das warmgelbe Farbspektrum wird um weiteren orange-roten Wein ergänzt und dann ist da auch noch der Mülleimer am Laternenpfahl im typischen Orange der BSR, unserer städtischen Reinigungsbetriebe. Gleich darauf führt der Volkspark Wilmersdorf wieder zurück zum Schema Gelb. Und die Menschen, die mir entgegen kommen, als ich die Kurve der Mannheimer nach rechts einschlage, wirken wie gecastet: Ein Fahrradfahrer präsentiert sich mit orange-gelber Weste und einer gelben Schirmmütze, das Neongelb des kurz darauf folgenden Joggers jedoch will nicht so ganz in die herbstliche Gelb-Harmonie passen.

Blick auf den Volkspark Wilmersdorf, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07 © Wanda Proft

Blick auf den Volkspark Wilmersdorf, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07

Das kann der Volkspark, den ich nun nach Überqueren der Barstraße betrete, tatsächlich besser: Mehr gelbes Laub an den Birken, die hier stehen, und natürlich auch auf dem Boden. Im Fennsee spiegeln sich der dämmrige Abendhimmel und die dunklen Baumstämme, die beginnen wie Säulen für ein Gewölbe aus Nacht auszusehen.
Bereits auf dem kurzen Stück Parkweg, den ich nehme, verschwinden die Stadtgeräusche und als ich den menschenleeren Wilmersdorfer Friedhof betrete, lasse ich zudem jegliches künstliches Licht hinter mir. Noch sind die kleinen Reste von Gelb zu erkennen: Die letzten Blätter an den Birken, das farbig gestrichene Kreuz aus Holz einer Stefania Rozzi, die gelbe Laterne auf dem Grab einer Familie Müller, gelber Ahorn und anderes gelbblättriges Gesträuch der alten, verwachsenen Ruhestätte der Familie Maasberg, dann Blätterhaufen auf freien Plätzen.
Bald allerdings wird jegliche Farbe von der einbrechenden Dunkelheit verschluckt. Es wird finster und kalt, außer vereinzelten Grablaternen gibt es kein Licht mehr auf dem Friedhof. Aber die Stimmung ist schön, es ist so ruhig, ich bin allein, all das hier ist so entschleunigend. Trotzdem mache ich mich langsam auf den Weg zum nordöstlichen Ausgang, der genau gegenüber von dem Tor lieb, durch das ich den Friedhof betreten habe.

Alte Grabstätten, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07 © Wanda Proft

Alte Grabstätten, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07

Der Weg führt mich an den Rückwänden alter, pompöser Grabanlagen entlang, deren Säulen sich im Dunkeln langsam den schwarzen Baumstämmen annähern. An einem Durchgang habe ich die Möglichkeit, die letzte Strecke noch einmal zurückzulaufen und mir die Wandgräber von vorn anzusehen. Sie wirken im Dunkeln noch gewaltiger und manche sehen aus wie kleine Kathedralen für die Toten.
Da ist das tempelartige Grab der Familie Dincklage, Familie Speck wartet mit einem Jugendstil-Zaun auf, das Wandgrab eines Künstlerpaares ziert eine trauernde Frau, die die Bildhauerin Lilli Wislicenus-Fitzelberg selbst geschaffen hat, daneben ein Engel für die Hermersbergs, der zu tanzen scheint, dann eine Grabanlage, die mit einem Bauzaun eingefasst ist.
Mittlerweile ist es vollkommen duster, nur vereinzelte Grablichter weisen den Weg. Sie wirken wie kleine, heimliche Geister, die Geschichten darüber erzählen wollen, wer hier ruht und wer diesen Menschen noch immer gedenkt. Aber ich nehme mir keine Zeit, die Inschriften zu lesen, wie ich es sonst gerne tue. Nur am Ende des Weges fällt mir noch ein Spruch auf, der neben einer von August Bauer geschaffenen Engelsskulptur, die eine frische Rose in den Händen hält, prangt: »Christus ist mein Leben—Sterben ist mein Gewinn«. Wenig zeitgenössisch klingt das und zeigt auch hier, wie die Zeit vergeht.

Alter Grabstein, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07 © Wanda Proft

Alter Grabstein, Friedhof Wilmersdorf, Wilmersdorf, Berlin 2018/11/07

Zuletzt erblicke ich in der nordöstlichen Ecke des Friedhofs eine Sammlung alter Grabsteine, die mich traurig machen: Überbleibsel von Verstorbenen, die langsam vergessen werden. Aber all dies ist ein Teil des Kreislaufes des Lebens und Sterbens. So reißt mich dieser Anblick wie auch der auf die verloren wirkende Steinmetzhütte daneben aus meinen Träumereien zurück in die Wirklichkeit.
Am Ausgang endet mein Spaziergang: An der Berliner Straße, Ecke Brienner Straße – dort wo die Wilmersdorfer Moschee steht. Ich bin zurück unter Straßenlaternen, zurück unter Leuten, etwas fröstelnd, aber ruhiger als zu Beginn meines Spazierganges. Laternen und Scheinwerfer haben ein kaltweißes Licht. Aber es strahlt auch auf den Wegen hier wieder das gelbe Lindenlaub, das mich zurück nachhause führt in die gelb gestrichene Wilhelmsaue 108A.

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writing exercise / 2018

DUDEN: Schreiben auf Reisen | Übung 1—Spaziergang 1

photos: Canon EOS 6D Mark II + EF 50mm f1.4