Nachdem ich mich in den letzten zwei Typo-Recherchen mit den beiden wichtigsten Druckschriften, der Minchō-tai und der Gothic-tai, befasst habe, die ihren Charakter von den Bleilettern besitzen, wende ich mich nun den historischen ›Schreib‹-Schriften zu. Da man hier nicht wie mit in unserem Kulturraum verwendeten Werkzeugen wie der Breitfeder schrieb, sondern mit dem Pinsel, werden diese im Japanischen als Pinselschriften (毛筆書体 / もうひつしょたい / Mōhitsusho-tai) bezeichnet.

Man unterteilt sie in chinesische (中国系 / ちゅうごくけい / Chūgoku-kei / Gruppe Chinesische) und japanische Schriften (日本系 / にほんけい / Nihon-kei / Gruppe Japanische). Ich werde heute mit der ersten Gruppe beginnen und mich zunächst dem Ursprung der chinesischen Schrift zuwenden.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Kikkoujuukotsu-Moji

Die bekannte Geschichte der chinesischen Typografie beginnt mit den Kikkoujuukotsu-moji (亀甲獣骨文字 / こっこうじゅうこつもじ / Schildkröten-Tierknochen Schrift), auch kurz unter Koukotsu-moji (甲骨文字 / こうこつもじ / Knochenschrift) bekannt. Sie stammen aus der Yin-Zeit (Ende der Shang-Dynastie, 16. bis etwa 11. Jahrhundert v.Chr.) und wurden für Orakel benutzt. Man verwendete dafür Schildkrötenpanzer oder Knochen von Hirschen und Rindern (z.B. Schulternblätter), in die man die Schriftzeichen einritzte oder seltener mit einem Pinsel auftrug. Auf ihnen fand man insgesamt 4.500 Schriftzeichen, von denen heute nur ein Drittel entziffert ist.

Auf dieser chinesischen Seite gibt es diverse Abbildungen von Funden mit Kikkoujuukotsu-moji, die sehr interessant sind. Bedenkt man, dass viele alte Kulturen Tierknochen zu religiösen Zwecken verwendeten, bekommt man dort einen gewissen Eindruck davon, in welchem Kontext diese Schrift entstanden ist.

Ich persönlich muss an die germanischen Runen denken, die ebenfalls auch religiös genutzt wurden. Und auch wenn wir heute das lateinische Alphabet verwenden, gibt es Bezüge zu ihnen: Der Begriff ›Buchstabe‹ leitet sich von den Buchenstäben ab, auf denen die Runen unter anderem niedergeschrieben wurden.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Kibun-tai

Kehren wir aber in den asiatischen Raum zurück. Die zweitältesten chinesischen Schriften befinden sich auf Gegenständen wie Glocken und Kesseln, die wie die Orakelknochen für spirituelle Riten Verwendung fanden. Sie sind aus Bronze gefertigt, weswegen man die Schriftzeichen darauf japanisch als Kinbun-tai (金文体 / きんぶんたい / eigentlich: Metallstil) und deutsch als Bronzeinschrift bezeichnet. Zunächst wurden die Zeichen bereits in die Tonform geschrieben, in die die Bronze gefüllt wurde, später gravierte man sie auf das gegossene, ausgehärtete Metall. Die ältesten Funde stammen ebenfalls aus der Shang-Dynastie, die Technik wurde allerdings auch in der Zhou-Dynastie (1045 bis 256 v.Chr.) und darüber hinaus angewandt, wobei sich die Gestalt der Schriftzeichen veränderte.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Tensho-tai

Die Weiterentwicklung der Kin-buntai ist die Tensho-tai (篆書体 bzw. てん書体 / てんしょたい / Siegelschrift). Man unterscheidet zwischen Daitensho-tai (大篆書体 / だいてんしょたい / Große Siegelschrift), unter denen man heute die Schriften vor der Qin-Dynastie (inklusive der Orakelschrift) versteht, und Shōtensho-tai (小篆書体 / しょうてんしょたい / Kleine Siegelschrift), die um 220 v.Chr. in der Qin-Dynastie (221 bis 206 v.Chr.) systematisiert und standardisiert wurden.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Tensho-tai

Abgesehen von ihrer runden Gestalt, sind sie den Kanji in Regelschrift bereits sehr ähnlich (vergleiche Abbildung rechts: Rechts = Regelschrift, Links = Siegelschrift). Diese Schriftform hat sich bis heute vor allem für Siegel erhalten und man findet von ihr digitalisierte Fonts.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Reisho-tai

Aufbauend auf die Siegelschrift entstand in der Qin-Dynastie die Reisho-tai (隷書体 / れいしょたい / Kanzleischrift). Sie war in der Han-Dynastie (206 v.Chr. bis 220 n.Chr.) die vorherrschende Schrift und hielt sich bis in die Wei-Jin-Ära (Wei-Dynastie 220–265 n.Chr., Jin-Dynastie 265–420). Im Gegensatz zu ihren Vorgängern nimmt sie eine quadratische, weniger längliche Form an. Teilweise scheinen sie sogar breiter als hoch zu sein, was für in moderner Typografie geschulte Augen etwas merkwürdig und gedrungen wirkt. Auch sie ist als digitaler Zeichensatz erhältlich. Reisho-Schriften werden heute in der Regel für Überschriften oder Schilder verwendet.

Für historisch ältere Reisho-Schriften ist auch der Begriff Koreisho-tai (古隷書体 / コれいしょたい / alte Kanzleischrift) in Gebrauch.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Kaisho-tai

Die letzte Stufe zur Entwicklung der historischen Endwicklung der Kanji-Form bilden die Kaisho-tai (楷書体 / かいしょたい / Regelschrift, Grundschrift, Blockschrift). Sie entstand zwischen der Östlichen Han- (25–220 n.Chr.) und der Cao Wei-Dynastie (220–265 n.Chr.). Als Erfinder der Kaisho-tai gilt der Minister Zhong Yao (151–230 n. Chr.). Im Vergleich zur Reisho-tai wirken die Striche gleichmäßiger und auch die Form der kompletten Zeichen ist ausgeglichener, weiterhin quadratisch, aber mit mehr Tendenz einer länglichen Vertikalen. In moderner Form ist sie noch heute die meist verwendete Pinselschrift – sowohl in der Kalligrafie als auch als Druckschrift, was beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass sie 1.800 Jahre alt ist.

Dies erscheint gewaltig, ist im schrifthistorischen Kontext jedoch nicht weiter besonders. Die älteste Schrift sind die altägyptischen Hieroglyphen, die von 3.200 v.Chr. bis 300 n.Chr. in Verwendung waren. Das erste Alphabet entwickelten die Phöniziern im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Und während in China gerade die Siegelschrift entstand, erreichte die lateinische Schrift ihre klassische Form. Bedenkt man, dass sich trotz Veränderung der gestalterischen Umsetzung der Aufbau unseres Alphabets kaum verändert hat, ist es weniger beachtlich, das dies auch für die chinesischen Zeichen gilt. An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass es in China 1956 eine Reform gegeben hat, in der für viele komplexe Zeichen ein Kurzzeichen eingeführt wurde. Da diese in Japan jedoch nicht umgesetzt wurde, was ich persönlich ästhetisch gesehen als sehr gut empfinde, ist dies für uns nur wenig interessant.

Zum Abschluss eine Zusammenfassung der in diesem Eintrag vorgestellten Schriften mit Beispielen für die Darstellung des Zeichens für Pferd.

Japanese Typography Close-up Chinese Origin Kanji Evolution

Quellen:

1) What are the different styles of Japanese lettering? (sci.lang.japan, 2010.03.07)
2) Chinese character, sowie weitere Artikel (englisches Wikipedia, 2010.03.07)
3) Chinesische Schrift, sowie weitere Artikel (deutsches Wikipedia, 2010.03.07)

Anmerkung: Da ich mich mit der japanischen Typografie beschäftige, verwende ich in diesem Artikel die japanische und nicht die chinesische Terminologie.

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first published at www.futurefire.de on 2010.03.08