In meinem letzten Eintrag habe ich über die Geschichte der chinesischen Schrift berichtet. Die dort benannten Pinselschriften (毛筆書体 / もうひつしょたい / Mōhitsusho-tai) entstanden in China und werden in Japan mit der Bezeichnung Chūgoku-kei (中国系 / ちゅうごくけい / Gruppe Chinesische) von den japanischen Schreibschriften (日本系 / にほんけい / Nihon-kei / Gruppe Japanische) unterschieden.

Japanese Typography Close-up Calligraphy Styles Tensho-tai

Beschäftigt man sich mit chinesischer Schriftgeschichte, kommt man um die Kalligrafie in keinem Fall herum, die im 6. bis 7. Jahrhundert nach Japan gelangte, und ist dort bis heute fast ebenso hoch angesehen wie im Ursprungsland selbst. Shodō (書道 / しょどう / „Weg der Schrift“ / Kalligrafie) ist nicht einfach nur einen Pinsel zur Hand nehmen und schnell ein paar Zeichen auf`s Papier kritzeln. Ein kalligraphisches Werk soll in einem Zug geschrieben werden, nahezu vollkommen gestaltet sein und nicht zuletzt der Persönlichkeit des Künstlers wiedergeben.

Die Kunst des Schreibens umfasst nicht nur das Ausführen der Pinselstriche selbst, sondern auch die Vorbereitungen und die Konzentration auf das zu entstehende Bild bevor auch nur ein Tropfen Tinte das Papier berührt. Sie zu beherrschen erfordert jahrelange Übung. In Japan wird Shodō in der Grundschule gelehrt und es gibt unter Anderem sogar einige Universitäten, die eine eigene Kalligrafie-Studienrichtung besitzen.

Sowohl in China als auch in Japan gibt es fünf Schrifttypen. Drei von ihnen habe ich im letzten Typo Close-up bereits vorgestellt: Die Tensho-tai (篆書体 / てんしょたい / Siegelschrift), die im Bild oben zu sehen ist (mittlere und rechte Spalte), die Reisho-tai (隷書体 / れいしょたい / Kanzleischrift) und die Kaisho-tai (楷書体 / かいしょたい / Regelschrift).

Die beiden weiteren Schriftstile sind die Gyōsho-tai (行書体 / ぎょうしょたい / Laufende Schrift) und die Shōsho-tai (草書体 / しょうしょたい / Grasschrift), die beide einen sehr starken handschriftlichen Charakter besitzen und von der Kaisho abgeleitet sind.

Japanese Typography Close-up Calligraphy Styles Gyosho and Sosho

Hier im Bild links ist neben dem Stempel in Siegelschrift ein Beispiel für die Gyōsho. Die Pinselstriche sind hier schneller und scheinbar weniger sorgfältig als die der Kaisho gesetzt. Man kann den Aufbau des Kanji aber noch ziemlich gut erkennen. Wegen ihres Aussehens wird sie auch Semikursive genannt. Ich empfinde diese Bezeichnung als nicht besonders gut getroffen, das die Schrägstellung keineswegs ein Kriterium für diesen Schriftstil ist. Das erste Zeichen 行 bedeutet laufen/fahren. Die Übersetzung „Laufende Schrift“ ist daher nicht nur genauer, sondern entspricht auch mehr dem gestalterischen Charakter der Zeichen, die dynamischer sind als die der Kaisho – sich also mehr bewegen… laufen.

Die gleiche Bezeichnungsproblematik gibt es für die Shōsho, wobei hier das Zeichen 草 (Gras, Kraut) für unsere Denkweise weniger naheliegend ist. Ich habe keine Quellen für die Herkunft des Namens gefunden, gehe aber davon aus, dass hier auf den „wild wachsenden“ Charakter der Stiche Bezug genommen wird. Die Shōsho wird in der Regel als Kursiv- oder gar Vollkursivschrift bezeichnet, obwohl auch hier keines der Zeichen wirklich schräg geschrieben ist.

Typisches Merkmal dieses Schriftstils ist die noch schnellere Pinselführung und die damit einhergehende Vereinfachung der Schriftzeichen. Abgesehen von der hier besonders wichtigen Strichreihenfolge sind die kalligrafischen Regeln hier lockerer als in anderen Stilrichtungen. Dies erlaubt dem Künstler eine größere individuelle Entfaltung, setzt aber gleichzeitig auch ein größeres Können voraus.

Es gibt für die Shōsho-Schriften zwei Kategorien: Die Dokusou-tai (独草体 / どくそうたい / „Allein-Grasschrift Stil“), bei der die einzelnen Zeichen voneinander getrennt sind, und die Renmen-tai (連綿体 / れんめんたい / „ununterbrochener Stil“) bei der sie miteinander verbunden werden.

So wie man auch unsere lateinische Schriftklassifikation grob und detailliert einteilen kann, lassen sich auch für die Gyōsho und die Shōsho Untergruppen definieren. Als Beispiel wäre hier für erstere die Shingyōsho-tai (新行書体 / しんぎょうしょたい / neue Gyōsho-tai) genannt und für zweitere die Kyōshō-tai (狂草 / きょうしょうたい / wilde Shō), die noch ungebändigter und unleserlicher ist als die Shōsho selbst. Die Erläuterung der Grobeinteilung soll hier aber genügen.

Auch an dieser Stelle eine Übersicht: Die fünf Hauptstile am Beispiel ihrer Namen.

Japanese Typography Close-up Calligraphy Styles Overview

Quellen:

1) Chinese script styles, sowie weitere Artikel (englisches Wikipedia, 2010.03.09)
2) Chinesische Kalligrafie, sowie weitere Artikel (deutsches Wikipedia, 2010.03.09)
3) 中国の書道史 (chinesische Kalligrafie-Geschichte), (jap. Wikipedia, 2010.03.09)

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first published at www.futurefire.de on 2010.03.09